Stell dir mal eine Uhr vor. Wenn es uns Menschen seit einer Stunde geben würde, dann wären wir über 58 Minuten lang als Nomaden durch die Gegend gezogen mit einer Gruppe von wahrscheinlich allerhöchstens 25 anderen. Ab und an hätten wir vielleicht eine andere Gruppe getroffen, so insgesamt, haben Mathematiker mal berechnet, haben wir um die 120 Leute in unserem ganzen Leben gesehen.
Nach 58 Minuten haben wir angefangen, uns Behausungen zu bauen, etwas anzupflanzen und Nutztiere zu halten und das auch nur in den wärmeren Gegenden. Wir hier in Mitteleuropa waren da noch viel später dran. Vor ein paar Sekunden haben wir dann angefangen, Städte zu bauen, eine Industrie zu schaffen und mit vielen Menschen zusammen zu leben.
Wir bauten bessere Straßen, füllten irgendwann Limonade in Flaschen ab, erfanden das Radio und Schönheitswettbewerbe.
Und jetzt komme ich endlich auch zum Punkt, sorry, das war ein ziemlicher Umweg.
Wir fingen an, ein Schönheitsideal zu entwickeln. Während der 58 Minuten unseres Durch die Gegend- Streifens hatten wir keine Idee, wie unser Gesicht aussieht, vielleicht haben wir uns mal in einer Wasserpfütze gesehen, aber ziemlich sicher gab es morgens kein umfangreiches Beautyprogramm. Wir haben natürlich auf die anderen um uns herum geachtet, denn ohne eine soziale Gruppe waren wir nicht lebensfähig. Es war also absolut unumgänglich, dass wir von den anderen akzeptiert wurden, alles andere wäre unser Tod gewesen. Also haben wir uns schon Mühe gegeben, dazu zu gehören und die Regeln der Gruppe zu befolgen, um nicht ihren Schutz zu verlieren.
Dies ist immer noch tief in uns verankert.
Wir achten darauf, mit den anderen mithalten zu können und bloß nicht ausgeschlossen zu werden.
Und vor allem Frauen wurde über die Jahrhunderte vermittelt, wie das aktuelle Schönheitsideal aussieht und dass sie sich bemühen müssen, dem möglichst gut zu entsprechen, sonst wurden sie sozial benachteiligt.
Und das aktuelle Schönheitsideal war immer das, was besonders schwer zu erreichen war: In Hungerzeiten waren es üppige Formen, in Gegenden, in denen viele auf den Feldern in der prallen Sonne arbeiten mussten, blasse Haut, in Überflusszeiten waren es besonders dünne Körper... du merkst schon, worauf das hinaus läuft?
Genau, "wirkliche" Schönheit war immer mit viel Aufwand verbunden und fast nicht zu erreichen.
Nun denn, damit ließ sich noch leben. Man hatte täglich reale Menschen um sich, die ein bisschen gehinkt haben, schiefe Zähne hatten und einen Pickel am Kinn. Die Panik, bei Nicht- Bestehen der Schönheitsprüfung aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden, hielt sich dadurch noch in Grenzen.
Und dann passierte es.
Nachdem uns ein paar Jahrzehnte lang Fernsehen und Zeitschriften schon genug verunsichert hatten, weil wir uns an den bearbeiteten Fotos einiger Schönheiten orientiert haben und frustriert waren, nicht so auszusehen wie ein Filmstar, kam Social Media wie eine Walze über uns.
Vor ein paar Minuten unserer Menschheitsgeschichte rannten wir noch unbedarft durch die Wälder neben uns ein paar Leute, und nun werden wir bombardiert mit Bildern von RICHTIG witzigen, wunderschönen und coolen Mitmenschen. Und unser Gehirn, welches diesen Sprung unmöglich mitmachen konnte, meldet uns ständig Alarm. Wir MÜSSEN mitbekommen, was die anderen so machen (das war im Wald, wenn man nicht verloren gehen wollte, schon sehr wichtig). Wir wollen dazu gehören. Wir sind in Panik, nicht dazu gehören zu dürfen.
Und schon unser eigenes, mit tausend Filtern bearbeitetes, möglichst von oben aufgenommenes Gesicht gibt uns ein Gefühl, das nicht erreichen zu können. Das ist richtig verrückt.
Und erst alle anderen! Die ständig total lustige, mutige, aufregende Dinge tun, dabei fantastisch aussehen und in den tollsten Gegenden der Welt umher reisen.
Jetzt könnte man sich natürlich schützen und das alles ignorieren. Wenn du das schaffst, bist du wahrscheinlich lebensälter. Hast Lebenserfahrungen ohne Social Media gemacht und weißt, wie das war.
Für die jüngeren Menschen ist das der soziale Tod und in keinem Lebensalter ist es wichtiger, irgendwo dabei zu sein. Das IST ihr Wald, durch den sie rennen. Oder wo sie inzwischen ständig hinterher rennen und sich täglich das Gefühl einfangen, total zu versagen und ungenügend zu sein.
Es gibt inzwischen Studien, die belegen, dass die Zeitspanne, die jemand auf Social Media verbringt und die Gefahr, an einer psychischen Erkrankung zu leiden, einen Zusammenhang hat. (Spoiler: Je mehr Zeit, desto größer die Wahrscheinlichkeit.)
Junge Frauen gucken sich Bilder von "schönen" Models an und stürzen sich kopfüber in eine Essstörung, die tödlich enden kann, weil unser Urinstinkt uns vorgibt, den Normen der Gruppe entsprechen zu müssen.
Wir sitzen auf unserem Sofa und gucken wie andere Menschen aufregende Gegenden der Welt entdecken und kommen uns ungenügend vor, haben das Gefühl, unser Leben zu verpassen.
Was kann man dagegen tun?
Erstens: Sich das Ganze bewusst machen!
Wissen um solche Dinge mindert immer die Macht, die sowas über uns hat.
Und dann werden wir (zweitens) notwendigerweise das Fach "Umgang mit Medien" in Schulen einführen müssen. Wir sind grade noch im Internet-Mittelalter mit Lynchmob und Quacksalbern und allem. Wir müssen schleunigst dafür für alle gängige Gesetze entwickeln.
Ich habe überhaupt nichts gegen das Internet. Erst gestern habe ich mir eine leckere Pizza bestellt, mich über eine Krankheit informiert, herzlich über etwas Lustiges auf YouTube gelacht und heute schreibe ich diesen Blog- Artikel. Alles wäre ohne Internet nicht möglich gewesen.
Aber wir müssen anfangen, unser armes Urzeit- Gehirn vor selbstzerstörerischen Prozessen zu schützen.
Und wir müssen unbedingt unsere Kinder schützen.
Paradoxerweise produziert Social Media einen Beitrag zum Thema "Selbstliebe" oder "Self care" nach dem nächsten, von attraktiven, erfolgreichen Menschen, die richtig toll darin sind, mal abzuschalten und es sich gut gehen zu lassen (während sie das filmen und anschließend stundenlang bearbeiten, um es dann zu posten). Und geben uns wieder das Gefühl, da nie hinkommen zu können.
Mehr Sinn würden wir unserem Leben geben, wenn wir anfangen würden, Obdachlosen einen Kaffee zu spendieren, ein paar hungrige Vögel zu füttern-- eigentlich ALLES, was uns von unserem Blick in den Spiegel und unserer ständigen Selbstbezogenheit weg führt.
Also drittens: Jeder, der sich für mehr als nur sich selbst interessiert, hat einen gewissen Schutz.
Und sich die Frage stellen, bevor du den nächsten Tiktok- Clip anguckst oder das nächste YouTube- Video startest: Werde ich mich danach BESSER fühlen? Werde ich etwas wichtiges lernen?
Oder im schlimmsten Fall nur Zeit verplempert haben?
Wenn ich morgen das Zeitliche segne, ist es das, was ich an meinem letzten Tag tun will?
Wenn ja: Dann viel Spaß damit.
Denn es kann ja Spaß machen. Soll es auch.
Aber es soll dich nicht zerstören.
Du bist einzigartig so wie du bist und darin liegt eine mächtige Schönheit. Bleib bitte einzigartig.