Du hast eine bestimmte, sehr belastende Krankheit? Leidest unter einer Sucht? Hast Gewalterfahrungen gemacht?
Wenn andere davon erfahren, kommt sicherlich irgendwann entweder der Vorschlag, dass du dich an eine Selbsthilfegruppe für das Thema wenden solltest oder die Warnung, dies auf keinen Fall zu tun.
Die einen werden berichten, dass ihnen dort wirklich gut geholfen werden konnte, und andere berichten, dass so ein Austausch nur alles verschlimmert hätte.
Warum kann beides richtig sein und wie kannst du für dich herausfinden, was das Beste für DICH ist?
Bevor ich die Pro‘s und Contra‘s aufführe, muss ich eben verkürzt erklären, was es mit dem berühmten Begriff der Empathie auf sich hat:
Emphatisches Verhalten entsteht in folgenden Schritten:
1. Schritt: Die andere Person nimmt eine gewisse Gefühlslage bei einem anderen wahr. (An diesem Schritt scheitern schon erstaunlich viele Menschen, die sich selber als emphatisch bezeichnen. Sie glauben, dass sie einfühlsam auf andere eingehen, bekommen aber nicht mal mit, wenn jemand neben ihnen innerlich in ein tiefes Loch stürzt, während sie fröhlich über Kuchenrezepte oder Navigationssysteme plaudern.)
2. Schritt: Man hat Zugang zu eigenen ähnlichen Gefühlen und vollzieht den Gemütszustand des anderen nach.
3. Schritt: Man überlegt, was in so einer Gefühlslage hilfreich wäre. Erinnert sich, was einem selbst geholfen hat.
Bis hierher schaffen es noch relativ viele Menschen. Aber den vierten Schritt, der wirklich emphatisches Verhalten bedeutet, schaffen sie nicht mehr:
4. Sie reflektieren, ob Schritt 3 wirklich das ist, was die andere Person braucht und passen notfalls ihr Verhalten an.
Vor diesem Hintergrund können wir uns nun angucken, was in Selbsthilfegruppen passiert.
Dabei sind besonders die Schritte 2 und 3 entscheidend.
Ein anderer Mensch, der deine Krankheit/ Erfahrung nicht selbst erlebt hat, kann niemals wirklich wissen, wie es dir geht. Er wird die Dimension deiner Verzweiflung erahnen können (vielleicht),
aber er kann es nicht wirklich nachvollziehen.
Leider versuchen es andere immer wieder, in guter Absicht!, und sagen dann Sachen wie „ Oh, ich weiß wie du dich fühlst!“.
Nein. Tun sie nicht. Sie meinen es gut, agieren dabei aber so zynisch wie ein gesunder Mensch, der zu einem Menschen mit Querschnittlähmung sagt: „Mir ist auch mal ein Fuß eingeschlafen, das war
auch echt schrecklich und ich konnte erst gar nicht auftreten.“
Zu jemanden mit Depressionen zu sagen: „ Ja, ich bin manchmal auch total müde“ ist genauso unsensibel.
Es ist ein Versuch, im Rahmen der Empathie eine Verbindung aufzunehmen, die aber dem Schecken, den der andere erlebt, nicht gerecht wird.
In einer Selbsthilfegruppe hat man den Kontakt zu anderen Personen, die ähnliches erlebt haben oder erleben. Dieses Gefühl, dass da endlich mal jemand ist, der die eigene Hölle nachvollziehen
kann und der einen ernst nimmt, kann sehr erleichternd sein. Auch kann man unter Umständen Tipps und Ratschläge von diesen Menschen besser annehmen. Da sich alle in diesem Themengebiet meist
sehr gut auskennen, steht einem ein gewisser Wissenspool zu Verfügung, über den viele medizinische Fachkräfte nicht verfügen.
Das Ganze ist in diesem Fall dann also hilfreich.
Aber es kann auch sein, dass man dadurch, dass man mit den Geschichten und dem Leid der anderen konfrontiert wird und diese Erfahrungen ja selber wirklich gut nachvollziehen kann, weil sie in Schritt 2 die eigenen Erlebnisse und Gefühle aktivieren, mit noch mehr Leid überflutet wird. Wo man ja schon mit dem eigenen mehr schlecht als recht klar kommt.
Ebenso kann es passieren, dass jeder der anderen Personen einem genau DAS als Ausweg nahelegt, was ihnen selbst gut geholfen hat.
Und sie dann den Schritt 4. nicht hinbekommen zu merken, dass es für den anderen eher schädlich wäre.
In dem Fall kann es viel besser funktionieren, dass man sich an jemanden wendet, der dies noch nicht erlebt hat, und der von daher alles viel sachlicher und nicht selber so emotional
anhört.
Bei dem man vielleicht auch nicht das Gefühl hat, dass man gewisse Sachen gar nicht erzählen kann, weil man es dem anderen nicht zumuten mag.
Dann ist man in einer ärztlichen oder psychologischen Beratung besser aufgehoben als in einer Selbsthilfegruppe.
Es gibt auch Menschen, denen Ablenkung von dem leidvollen Thema für die Verarbeitung gut tut. Die gibt es einfach. Die kommen mit ihren eigenen „Bordmitteln“ gut klar, Dinge für sich zu verdauen.
Wenn man denen ständig das Gespräch über ihre Erfahrungen aufdrängt, stört man eher ihren Heilungsprozess. Dies ist bei nicht so vielen Menschen so. Die allermeisten profitieren davon, im
Austausch mit anderen alles aufzuarbeiten. Aber es gibt sie!
Für die anderen ist es gut, wenn sie sich Hilfe holen!
Ob dies nun in einer Selbsthilfegruppe oder bei anderen Hilfsangeboten ist.
Absolut niemand kann dir sagen, was für dich das Richtige ist, das kannst nur du.
Weil du einzigartig bist und weil auch deine Hölle, die du erlebt hast oder erlebst, einzigartig ist. Und so wird auch das, was dir hilft, individuell sein.
Guck einfach, was dir hilft, probiere es vorsichtig aus. Achte auf dich!
Leider gibt es auch bei ärztlichen oder psychologischen Angeboten Menschen, die sich mit dem Schritt 4 schwer tun und die nicht die nötige Sensibilität haben, wirklich zu gucken, was funktioniert
und was in diesem Fall nicht. Vielleicht hatten sie mit ihrer Methode sonst immer Erfolg und wollen nicht einsehen, dass sie diesmal falsch liegen.
Wenn du dieses Gefühl hast, dann achte darauf!
Das gilt sozusagen für jeden Kontakt mit anderen Menschen, auch denen, die dir ansonsten nahestehen. Schirme dich ab, wenn’s dir dabei immer schlechter geht.
Auch wenn andere beleidigt sein sollten. Wenn sie es wirklich gut mit dir meinen, feiern sie dich letztendlich dafür, dass du auf deine Grenzen achtest und unterstützen dich dabei.
Wenn es ihnen ohnehin nur um sich selber geht, dann darfst du dich in Lichtgeschwindigkeit entfernen. Solltest du.
Denn dafür wird deine Kraft nicht reichen und es nützt niemandem, wenn du geschwächt aus einem als Hilfsangebot getarntem Gespräch gehst.
Ich wünsche Dir von Herzen, dass du das Richtige für dich findest!