Einem anderen Menschen ist etwas schlimmes passiert. Er ist überfallen worden, ausgeraubt, hat eine schreckliche Krankheit, wird gemobbt oder ein Erdbeben hat seinen Urlaub unmöglich gemacht. Irgendwas. Das ist schlimm und dieser Mensch sollte nun nichts anderes als Mitgefühl und Unterstützung bekommen.
Was stattdessen, nach der ersten Phase, in der alle noch geschockt sind, ihm passiert, ist aber oft folgendes:
Er sieht sich mit ungefragten Ratschlägen und Ferndiagnosen, warum das denn überhaupt passieren konnte, konfrontiert.
Derjenige, der Opfer einer Straftat geworden ist, hat bestimmt irgendwas gemacht (sich falsch angezogen, verhalten, war leichtsinnig, unaufmerksam, in der falschen Gegend unterwegs...) was dazu beigetragen hat, dass es so gekommen ist.
Wer krank geworden ist, hat sich wahrscheinlich falsch ernährt, nicht positiv genug gedacht, hatte zu viel Stress, hat irgendwann mal mit einem Raucher zusammengewohnt oder oder oder...gepaart mit Ratschlägen, was nun zu tun ist.
Wer gemobbt wurde, hat sich wahrscheinlich sozial ungeschickt angestellt oder wollte sich nicht in die Gruppe einfügen.
Wer nicht in den Urlaub fahren kann, hat sich von vornherein das falsche Ziel ausgesucht.
Selbst, wenn diese Vorwürfe und Interpretationen bewiesenermaßen völliger Quatsch sind!!!
(Ein Bandscheibenvorfall oder eine Krebserkrankung hat nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, dass man nicht jeden Morgen sich im Spiegel mit: Tschakka, heute ist ein toller Tag und ich bin ein toller Mensch!!!! angebrüllt hat.)
Krebs, Nahrungsunverträglichkeiten, Hautausschläge und alles mögliche können unglaublich viele Ursachen haben! Selbst studierte Mediziner suchen da oft lange nach der Ursache und finden sie nicht.
Oder in hundert Jahren wird man über unsere Unwissenheit die Hände über den Kopf zusammenschlagen.
Warum also passiert das dann trotzdem? Haben die anderen Menschen, die so etwas tun, eine sadistische Lust daran, dem Betroffenen noch extra eins reinzuwürgen?
Nein, so ist das nicht. (Vielleicht in ganz wenigen Fällen, aber die sind ein anderes Thema).
Der Mechanismus, der dahinter steckt, ist folgender:
Ich erkläre das mal an einem Beispiel:
Jemandem, der mir in vielen Dingen sehr ähnlich ist: Ungefähres Alter, gleiches Geschlecht, ähnlicher sozialer Status, Wohngegend und so weiter... passiert etwas schlimmes, sagen wir, es wurde bei dieser Person eingebrochen.
Nachdem mir das erstmal für diese Person leid tut, merke ich, dass diese Tat auch mein persönliches Sicherheitsgefühl ins Wanken bringt. Ich fühle mich in meiner Wohngegend plötzlich nicht mehr so sicher.
Und nun sucht unsere Psyche nach Möglichkeiten, um mein Sicherheitsgefühl wieder herzustellen.
Wir meinen uns plötzlich erinnern zu können, dass das Einbruchsopfer doch öfter mal ein Fenster auf Kipp gelassen hatte, oder nicht? Doch, so war das bestimmt!!!
(Muss niemals passiert sein, um einen Faktencheck geht´s unserem Hirn dabei überhaupt nicht.)
Aber das ist jetzt unser Ausweg! Denn WIR würden ja niemals so dämlich sein, ein Fenster offen zu lassen, wenn wir weggehen. Uff! Glück gehabt. Denn das bedeutet, dass uns das ja dann nicht passieren wird und es geht uns wieder besser.
Wir würden nämlich NIEMALS uns falsch anziehen, am falschen Ort sein, so einen blödsinnigen Urlaub buchen...
Wir verhalten uns natürlich gesundheitsbewusst, wissen uns in Gruppen zu benehmen und all das.
Und weil uns das von unserem Gehirn so eingetrichtert wird, können wir uns wieder entspannen.
Aber leider, jedes Mal, wenn wir uns nun mit dem betroffenen Menschen, dem etwas Schlimmes passiert ist oder seinen Angehörigen abgeben, vielleicht sogar genauere Details erfahren, könnte das Sicherheitsgefühl von uns wieder bedroht werden.
Also interessieren wir uns am besten nicht für die Fakten, sondern suchen die Distanz zu den Betroffenen und finden für uns Ausreden, warum wir uns grade so verhalten.
Und da fällt uns immer etwas ein:
Die wollen bestimmt jetzt ihre Ruhe...werden schon Bescheid sagen, wenn sie Hilfe brauchen (in dem Fall werden wir feststellen, dass das LEIDER grade nicht passt und wir da auch nicht so richtig helfen könnten, leider, leider...) und letztendlich, naja, sind sie ja auch selber schuld, oder?
Sollte uns das Opfer eher nicht so ähnlich sein, fällt es noch einfacher, sich innerlich und in Taten zu distanzieren.
Wenn du mal in so einen Schutzmechanismus verfallen bist, keine Sorge, das ist erstmal nur ein Beweis dafür, dass deine Psyche sich anstrengt, dich gesund zu halten. Was etwas Gutes ist.
Aber es hilft enorm, sich diesen Mechanismus bewusst zu machen und sich immer mal wieder zu reflektieren, ob wir uns grade so verhalten, dass wir tief in uns entschieden haben, dass das Opfer
eigentlich selber schuld sei.
Dann kommen wir aus diesem Blaming-The-Victim-Prozess heraus, überlegen uns etwas anderes, um unser Sicherheitsgefühl wieder herzustellen und das kann dann eine Sicherheitsanlage an den Fenstern sein oder ein medizinischer Checkup, also Dinge, die uns dann tatsächlich besser schützen, und danach können wir uns wirklich um die andere Person kümmern.
Wir können unser Bedürfnis nach Sicherheit nicht ignorieren, müssen wir ja auch nicht, aber es ist wichtig, die richtigen Dinge zu tun.
Denn umgekehrt würden wir uns auch wünschen, dass, sollte uns mal so etwas passieren, die anderen uns zur Seite stehen und nicht, dass sie uns noch Vorhaltungen machen.
Es ist einfach unfair, wenn jemand doppelt leiden muss: Einmal durch das, was passiert ist und dann durch das, wie sich danach das Umfeld verhält.
Ich will keine juristische Debatte, aber manchmal verlieren wir aus den Augen, dass derjenige, der für einen Einbruch verantwortlich ist, DER EINBRECHER ist.