Stell dir mal vor, dass du eine Zwiebel vor dir hast und diese einmal durchschneidest. In der Mitte liegt der Zwiebelkern, vollgesogen mit Zwiebelsaft und nach außen hin liegen Schicht für Schicht, immer trockener...
Und nun stelle dir diese Zwiebel wie ein Modell von dir vor.
Wenn die Dinge, die in deinem Wesenskern sind, berührt werden, dann wird es tränenreich. Während die Dinge, die eher außen liegen, dir sehr viel weniger ausmachen.
Damit meine ich Sachen wie Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Ehrlichkeit, Treue, das Bedürfnis nach menschlichen Kontakten, das Bedürfnis nach tierischen Kontakten, Abenteuerlust, der Gerechtigkeitssinn...alles mögliche. All diese Sachen könntest du sicherlich irgendwo auf deiner Zwiebel verorten.
Wenn dein Bedürfnis nach Abenteuer so gering ist, dass es sich eher außerhalb der Zwiebel befindet, wirst du ungläubig staunen, dass andere sich immer wieder ohne Not in Gefahr begeben und offensichtlich daran größten Spaß haben.
Wenn umgekehrt dein Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität ganz außen auf der Zwiebel platziert ist und dir ganz schnell langweilig wird, dann verstehst du Leute nicht, die sich jedes Jahr darauf freuen, an den gleichen Urlaubsort zu fahren.
Und jetzt kommen wir zu der Ursache von allen Konflikten.
Unsere "Zwiebel" ist uns wichtig, vor allem die Dinge, die in unserem "Zwiebelkern" sind. Wenn ich ein sehr pünktlicher Mensch bin und mir das sehr wichtig ist, dann stressen mich alle Menschen, die unpünktlich sind. Und am schlimmsten die, mit denen ich zusammenlebe, wenn sie dann, wenn ich längst unterwegs sein will, immer noch mit irgendwas herumtrödeln.
Vielleicht ist dafür mein Ordnungssinn nicht so ausgeprägt. Der ist weiter außen auf meiner persönlichen Zwiebel. Wenn nun also der andere Mensch auch noch ausgerechnet dann, wenn ich pünktlich los will, anfängt etwas aufzuräumen, regt mich das doppelt auf.
ABER beim anderen ist der Ordnungssinn vielleicht ganz tief im Wesenskern drin und den würde es sehr stören, wenn beim Nachhausekommen noch alles mögliche herumliegt. Pünktlichkeit spielt für diesen Menschen vielleicht eine nicht so wichtige Rolle und er denkt sich: Wir wollen zu Freunden und hatten gesagt, dass wir gegen 19 Uhr da sind, da kommt es doch auf fünf Minuten nicht an, aber ich werde wahnsinnig, weil in der Küche immer noch schmutziges Geschirr rumsteht.
Diesen Menschen stresst die Person, die schon die Jacke angezogen hat und mit den Schlüsseln klimpert und drängt, dass es jetzt endlich losgehen soll.
Beide finden natürlich, dass sie recht haben. Denn beide EMPFINDEN ja tief in sich, dass das eine wichtiger ist als das andere. Und sie verbringen viel Zeit damit, den anderen zu überzeugen, dass er gefälligst genau so zu funktionieren hat, wie sie selber.
Sie möchten also quasi, dass der andere seine Zwiebel der eigenen anpasst.
Blöd nur, dass das beide wollen. Blöd nur, dass sich beide im Recht sehen. Blöd nur, dass es fast unmöglich ist, etwas, was im Zwiebelkern steckt, wirklich zu verändern.
Die Konflikte sind vorprogrammiert.
Und das können schon zwei Menschen sein, die sich ein Büro teilen. Für den einen ist es ein Grundbedürfnis, möglichst immer das Fenster aufzuhaben, auch bei Minustemperaturen, weil das Bedürfnis nach frischer Luft tief im Zwiebelkern vergraben liegt und er das Gefühl hat, bei geschlossenem Fenster zu ersticken, und die andere Person mag es lieber warm und dafür auch ein bisschen miefig (ist ja schließlich noch niemand erstunken, dafür aber schon viele erfroren, oder?). So sympathisch sich die beiden ansonsten sein mögen, in diesem Punkt werden sie immer wieder Konflikte haben.
Weil man etwas, was einem wirklich wichtig ist, eben nicht zuliebe eines anderen dauerhaft aufgeben kann.
An dem Punkt sagen noch die meisten: Ja, das verstehe ich. Und der andere darf ja auch seinen Zwiebelkern haben, verstehe ich alles... aber wenn es hart auf hart kommt, habe ICH recht, weil der andere das doch einsehen muss. Es IST doch einfach so viel wichtiger, pünktlich zu sein als noch ein paar Kleidungsstücke wegzulegen.
Über diese Punkte streiten sich Menschen erbittert. Vom anderen werden irgendwann Artikel ausgegraben, die belegen, dass die deutsche Kultur mit ihrem Pünktlichkeitsanspruch eher allein dasteht, wenn man die Menschheit global betrachtet und der Urzeitmensch gar keine Uhr hatte und und und... Das alles wird keinen Menschen, bei dem Pünktlichkeit auf dem Zwiebelkern liegt, davon überzeugen, dass er in diesem Punkt mal lockerer sein sollte.
Sollte er sich äußerlich anpassen, um den Streitereien irgendwann aus dem Weg zu gehen, wird er trotzdem unter Unpünktlichkeit leiden.
Bei Partnerschaften, in denen einer total dominant ist und der dem anderen die eigenen Zwiebelwertigkeiten überstülpt, weil er fest davon ausgeht, dass das doch das Beste für beide ist, wird der andere auf Dauer unglücklich werden.
Wir entwickeln uns weiter, wenn wir mit jemanden Kontakt haben, der eine andere Zwiebel hat. Weil das unser eigenes Wertigkeitssystem in Frage stellt und uns deutlich macht, dass eben nicht alle so ticken wie wir.
Wenn wir eigentlich total unpünktliche Menschen sind, aber wir haben es mit jemandem zu tun, dem das mitten in seiner Zwiebel eingegraben ist, dann können wir beschließen, dass uns das Wohlergehen dieses Menschen so wichtig ist, dass wir ihn nicht so stressen und verärgern wollen. Nicht, weil wir unsere Zwiebel aufgeben, sondern, weil wir dem anderen Respekt entgegen bringen.
Nur so kann es gehen, dass die Konflikte nicht ständig auflodern, denn aus den "Zwiebelkern- Konflikten" gibt es keinen Ausweg und manchmal auch keinen Kompromiss. Wenn einer einen starken Kinderwunsch hat (tief im Zwiebelkern) und für den anderen die Vorstellung von einem Leben mit Kindern nur Entsetzen auslöst, dann kann da kein Kompromiss gefunden werden. Wie sollte der auch aussehen? Ein halbes Kind bekommen?
Oder einen halben Hund haben?
Wir finden entweder eine Alternative, die das Bedürfnis des anderen zumindest halbwegs befriedigt, oder einer muss bei einem Thema, welches ihn im Kern ausmacht, leerausgehen.
Ein Ausweg ist, dass man sich klarmacht, dass dem anderen seine Bedürfnisse genauso wichtig sind. Dass man den anderen nicht überzeugen kann. Ein eher unordentlicher Mensch wird auch nach stundenlangen Streits nicht irgendwann aufwachen und das tiefe Bedürfnis verspüren, sich noch vor dem ersten Kaffee den Staubsauger zu schnappen. Darauf braucht man nicht hoffen.
Ein Sicherheitsmensch wird nicht vom Fallschirmsprung im Amazonas träumen, egal wie schmackhaft ihm dies gemacht wird.
Also können wir uns überlegen, ob uns der andere Mensch wirklich wichtig ist, so wie er nun mal ist. Und dann akzeptieren wir dies und verstehen, dass er nicht so ist, um um zu nerven, sondern, weil er so ist wie er eben ist.
Ich glaube, das ist der wichtigste Punkt: Dass wir verstehen, dass der andere uns mit seinem Verhalten nicht bewusst nerven will, sondern dass sein Verhalten der Ausdruck dessen ist, was ihn eben ausmacht.
Und dann können wir aufhören, dem anderen Böswilligkeit zu unterstellen. Der andere kommt nicht zu spät, um einen zu ärgern.
Wir können in Ruhe und ohne Vorwürfe sagen, welches unsere Zwiebelbedürfnisse sind und uns die vom anderen anhören. Den anderen verstehen wollen. Nicht verändern.
Die Chance begreifen, dass uns der andere herausfordert, uns selber ein bisschen zu verändern, ohne uns aufzugeben.
Aufhören wollen, RECHT zu haben und den anderen an sich anpassen zu wollen.
Akzeptieren, dass das immer wieder zu Konflikten führen wird.
Sich klarmachen, dass in den Partnerschaften, in denen sich einer dem anderen "unterworfen" hat, kaum noch Entwicklung möglich ist. Da gibt es dann nämlich nur noch die eine Zwiebel und eine schwache Kopie davon, die unterwegs sind.
Akzeptieren, dass man mit seinen Unterschiedlichkeiten ein starkes Team für viele verschiedene Situationen ist.
Ja, "Zwiebel-Konflikte" lassen sich nicht lösen, nur verstehen.
Und das ist vielleicht schon die Lösung.